Aus der Frankfurter Rundschau:
Von Thomas Kilchenstein
Irgendwann hatte Jürgen Grabowski, zwischen lauter Mullbinden, Pflastern, leeren Flaschen und ebensolchen Gesichtern, keine Lust mehr: „Wie oft muss ich das noch mitmachen?“, stöhnte der große „Grabi“. Eine Antwort bekam der elegante Techniker nicht, später geriet selbst der feinsinnige Trainer Dietrich Weise ins Grübeln: „Jetzt glaube ich bald selbst daran, dass wir in Offenbach nicht gewinnen können.“
Das war im September 1975, die Eintracht, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, gerade zum zweiten Mal hintereinander DFB-Pokalsieger geworden und nach zwei Siegen gegen Altletico Madrid im Europapokal-Viertelfinale, hatte mal wieder ein Spiel gegen die Kickers verloren, 1:2 auf dem ungeliebten Bieberer Berg.
Ein paar Wochen später fegten die Frankfurter den FC Bayern München mit 6:0 aus dem Waldstadion, aber gegen die Kickers gingen sie in der Bundesliga fast immer als zweiter Sieger vom Platz − oft genug regelrecht gedemütigt. Weil viele Derbys erst in den letzten Minuten entschieden wurden, zugunsten des OFC, muss man hinzufügen.
„Es hat 90 Minuten gerappelt“
Etwa im Oktober 1972, 2:1 führte die Eintracht nach zwei Grabowski-Toren bis fünf Minuten vor Schluss, dann drehte Erwin Kostedde, der braune Bomber, in der 85. und 89. Minute noch das Spiel. Oder im September 1983: Kaum hatte Ralf Sievers in der 88. das 1:1 erzielt und scheinbar das Endergebnis besorgt, schaffte Michael Kutzop (89.) noch den Kickers-Sieg. „Ja, der Bieberer Berg, da spielte keiner gerne“, sagt Bernd Hölzenbein, die andere Eintracht-Legende. „Wenn man wie ich Stürmer war, dann hatte man in Offenbach nichts zu lachen, da ging es schön zur Sache, da musste man sich warm anziehen. Früher gab es ja keine Superzeitlupen, da sah kein Mensch die ganzen kleinen Gemeinheiten“, erinnert sich Hölzenbein, mittlerweile schon 63 und Chefscout.
In der Bundesliga musste Eintracht Frankfurt siebenmal auf Biebers Höhen antreten, und sechsmal setzte es Klatschen, auch deftige, etwa im Oktober 1973. 2:5 unterlagen die Frankfurter geradezu entfesselt aufspielenden Offenbachern. Niko Semlitsch, Unikum auf rhein-mainischen Trainerbänken, 62, machte da, wie er selbst einst sagte, „das beste Spiel meiner Karriere“. Dieses Spiel, in dem Semlitsch sogar ein Tor erzielte, sei „auch das einzige, das ich zu Hause noch auf DVD habe.“
Aber die beiden wirklich wichtigen Spiele hatte die Eintracht gewonnen. Zum einen das Finale 1959 in Berlin um die deutsche Meisterschaft und tatsächlich ein einziges in Offenbach:
Man schrieb den 29. Mai 1971, 33. Spieltag: Es ging für beide Klubs um nichts anderes als das nackte Überleben. Die Konstellation war diese: Am letzten Spieltag empfing die Eintracht die Borussia aus Mönchengladbach, die Meister werden wollte, die Kickers mussten zum 1. FC Köln. Beide Spiele waren im Grunde nicht zu gewinnen, Kickers oder Eintracht, nur der Sieger blieb drin. Und dann segelte in der 17. Minute eine Flanke von Bernd Hölzenbein in den Strafraum, Bernd Nickel, damals 22, legte sich quer in die Luft und drosch die Kugel per Seitfallzieher ins Netz. Ein sensationeller Treffer, der zum Tor des Monats und auf den zweiten Platz beim Tor des Jahres 1971 gewählt wurde. Hölzenbein schoss dann (62.) noch ein zweites Tor, die Eintracht blieb drin, die Kickers stiegen ab.
Einen Tag später drückte Horst Gregorio Canellas auf den Knopf seines Tonbandgerätes − dann enthüllte der damalige OFC-Präsident den Bundesligaskandal. Wer weiß, was passiert wäre, „hätte ich das Tor nicht geschossen“, sagt Nickel, womöglich hätten die Kickers gewonnen, wären in der Liga geblieben und der Bestechungsskandal wäre nie ans Tageslicht gekommen.
„Da war immer Gift im Spiel“
Für Nickel hatte der herrliche Treffer ganz persönliche Auswirkungen: „Ich durfte nicht zum FC Bayern München.“ Mit den Bayern war schon alles klar, bei Abstieg der Eintracht „wäre ich zu den Bayern gewechselt“, sagt Nickel. Er ist dann geblieben, spielte 426-mal für die Eintracht zwischen 1967 und 1983, schoss 141 Tore, darunter welche von allen vier Ecken im Waldstadion.
„Dr. Hammer“, wegen seiner Schusskraft so genannt, hat so ziemlich alle Derbys mitgemacht, und immer hatten diese Spiele ihren ganz speziellen Reiz. „Ich habe lieber gegen Gladbach oder Bayern gespielt als gegen die Kickers“, sagt der heute 60-Jährige. Gegen die Kickers − da war „immer Gift im Spiel, da gab es regelrechte Hassgefühle.“ Das begann schon vor dem Spiel, als man, wie das so üblich ist, den Rasen testete. „Da gab es keinen Augenkontakt, keine Begrüßung, die Kickers standen links, wir rechts.“
Im Spiel selbst ging es meist nickelig zur Sache, Provokationen seien an der Tagesordnung gewesen. „Gerade der Winfried Schäfer, der oft gegen mich gespielt hat, oder Manfred Ritschel sind ordentlich zur Sache gegangen“, erinnert er sich. „In Offenbach“, sagt Kumpel Hölzenbein, „hat es 90 Minuten gerappelt.“ Es sei in diesen Spielen schließlich „um die Macht am Main gegangen“. In aller Regel „gab es für uns in Offenbach nichts zu holen“, sagt auch Nickel. Die Eintracht hatte die besseren Einzelspieler, doch der OFC behielt mit Leidenschaft, Kampfkraft und Unterstützung des Publikums im Hexenkessel meist das bessere Ende für sich.
Den Bieberer Berg betritt Bernd Nickel nicht mehr, sagt der ehemalige Mittelfeldspieler, er fühlt sich da nicht wohl. Dabei, siehe die letzten beiden Pokalspiele, gewinnt die Eintracht mittlerweile auch mal auf dem Berg.